Die Organisatoren des Hochschulstreiks: „Wir kämpfen gegen die Gutmenschen von ’68”

Volles Pensum im Protest-Seminar

An der Universität Gießen fing alles an – dortige Studenten unterrichten nun Kommilitonen überall erfolgreich in der Wissenschaft der leisen Revolte

Von Jutta Pilgram

Gießen, 30. November – Wenn Ralph Wildner seinen Rundgang über den Campus macht, fallen ihm alle paar Meter Leute um den Hals, Wildfremde klopfen ihm auf die Schulter und rufen: „Ralph, du warst stark! Du warst erste Klasse!” Dabei ist Ralph kein Star, er weiß, daß er nur einer von vielen ist. Er hat bei der großen Studentendemonstration in Bonn am vergangenen Donnerstag die Kundgebung moderiert. Er hat dort gesagt, daß der Finanznotstand in Deutschland nicht gottgegeben sei und immer noch Geld verschwendet werde und man beim Wehretat kürzen könne. Wenn einem wirklich an Bildung gelegen sei. Ralph hat dafür Applaus von 40 000 Studenten bekommen.

Das Philosophikum der Universität Gießen liegt am Stadtrand, noch hinter den Baumärkten und dem McDonald’s Drive-In. Fahle Plattenbauten ragen aus dem Novembernebel wie Containerschiffe, das Audimax ist ein nasser Betonblock. Stoffbahnen mit Streik-Parolen hängen im Regen, Türen sind mit Ketten versperrt, mit Latten verrammelt. In der Mensa sitzen Studenten im Anorak, es ist klamm wie auf einem Campingplatz. Hier begann vor einem Monat der Studentenstreik, der nun beinahe 50 Hochschulen erfaßt.

Da kommt Stimmung auf

Der Literaturstudent Ralph Wildner war von Anfang an dabei, er trägt Kampfmontur: eine Kappe mit rotem Stern, einen schweren Militärmantel mit silberner Trillerpfeife am Revers, Palästinensertuch und Buttons am Rucksack. Nicht alle Vorkämpfer sind so ausstaffiert, im Streik-Büro wirken einige wie gestreßte Banklehrlinge, andere wie müde Manager. Aus ganz Deutschland landen hier Anfragen von Hochschulen, die Proteste erwägen. Sie fordern Gießener Gastredner für Vollversammlungen an. „Damit die Stimmung rüberkommt”, sagt Ralph.

Er ist als Handlungsreisender des Streiks in Marburg, Wetzlar und an der Gießener Fachhochschule aufgetreten. An diesem Montag wird er Hamburg mobilisieren. „Das ist wie eine Droge. Du gehst ans Mikro und sagst: ,Ich bin der Ralph aus Gießen‘, und schon brandet ein Riesenapplaus los. ” Dann sagt Ralph ernst: „Man fährt natürlich nicht hin, um sich persönlich beklatschen zu lassen. Die Leute wollen einfach wissen, wie so ein Streik funktioniert, wie wir das logistisch hinkriegen. ” Umgekehrt schicken viele Hochschulen Abgesandte nach Gießen, damit sie in der Zentrale den Protest studieren. Ralph macht dann eine Führung: Theologen und Kunstpädagogen streiken auch nach vier Wochen rund um die Uhr, die meisten Türen sind dicht, der Baumarkt hat Ketten und Bretter gesponsert. Fünf Streikposten sitzen mit Thermosflaschen am Haupteingang und verhindern, daß im Gebäude regulärer Lehrbetrieb abläuft. „Wir sind das Diskussions- und Empfangskomitee”, sagt einer, „wer rein will, den überzeugen wir davon, daß die Vollversammlung Streik beschlossen hat.”

Vor einigen Tagen hat sich ein Professor mit seinen Studenten ins Haus geschlichen und eingeschlossen, um einen Kurs über das Alte Testament abzuhalten. Da haben die Streikposten vor der Tür getrommelt, bis die drinnen ihr eigenes Wort nicht mehr verstanden. „Aber keine Gewalt”, sagen die Streikposten. „Na ja”, meint ein anderer, Gero mit dem Totenkopfring baue sich manchmal schon bedrohlich am Eingang auf. Sie wollen jedenfalls dem „Präsi” keine Schwierigkeiten machen, wie die Studenten den Gießener Unipräsidenten Bauer fast zärtlich nennen. Damit keiner sagen kann, der Präsi, der den Streik unterstützt, habe seine Leute nicht im Griff.

Was wollen sie mit der Blockade erreichen, wo soll das Geld für Bildung herkommen? Seit zwanzig Jahren kennt keiner den Ausweg aus der Hochschulmisere. Haben sie einen Plan? „Nein, aber wir arbeiten daran”, sagt ein Streikposten. Um eine Lösung zu entwickeln, bräuchten sie Freiräume, deshalb der Streik. Sie seien gegen Studiengebühren und für mehr Mitbestimmung. Die Details der Hochschulreform, an der Bund und Länder basteln, sind nicht allen vertraut. Globalhaushalt? Leistungsbezogene Mittelvergabe? Internationale Abschlüsse? Da gehen die Meinungen auseinander.

Eines wollen sie aber sicher nicht – „die Dutschkes der Neunziger” genannt werden. „Oh, wie lästig”, sagt Ralph, „diese ewigen Vergleiche in den salonlinken Blättern, wo sich die Alt-Achtundsechziger jetzt noch einmal selbst beweihräuchern wollen. Die haben damals immerhin gegen Nazi-Verbrecher gekämpft. Wir kämpfen gegen die pazifistischen Gutmenschen von ’68, die heute überall fett drinsitzen. Unser Job ist viel schwieriger!” Streikposten Alexander Renner hält es für ein Gerücht, daß die Protestierer unpolitisch seien: „Warum sollten wir unsere Väter und Mütter nachahmen? Die Achtundsechziger waren doch geistige Dünnbrettbohrer, die haben eine Menge Schwachsinn dahergeredet! Haben sich lange Haare wachsen lassen und waren stolz drauf. Dabei können wir viel besser kiffen!”

Was kann die Wiese dafür?

Steffi Oehme läßt die Frage nicht los, ob die Studenten nicht zu brav sind. Die 21jährige Jurastudentin hat bei der Demonstration in Bonn einen Alt-Achtundsechziger getroffen: Einen Kameramann, der sich furchtbar über die Studenten aufgeregt habe. „Ihr seid sogar zu brav, um über den Rasen zu laufen”, habe er geschimpft. Aber warum, sagt Steffi Oehme, hätten sie den Rasen vor der Kreuzkirche zertrampeln sollen, wenn man auch ordentlich auf dem Bürgersteig demonstrieren kann? Der Rasen sei abgesperrt gewesen mit einem Gitterchen. Hätten sie vielleicht die Bannmeile vorm Kanzleramt durchbrechen sollen wie die Bergleute?

Steffi Oehme war anfangs gegen den Streik: „Das Häuserbesetzen kam mir vor wie ein albernes Abenteuerspiel”, sagt sie. Jetzt geht sie als Gießener Abgesandte auf Tour. Sie wird in München vor den Juristen auftreten, dann bei der Münchner Studentenvollversammlung: „Ich werde mein Bestes geben, um die Leute zu motivieren. ” Sie habe gehört, die Münchner Juristen seien strikt gegen Boykott, aber Angst, vor Tausenden Kommilitonen zu sprechen, hat sie nicht. „Das ist das Streik-Training”, sagt Ralph, „diese Wochen waren eine Musterlektion in praktischer Demokratie.”

Ralphs Führung durch die Protest-Uni ist bei der Streik-Küche angelangt. „Wir sind hier sechs begeisterte Hobbyköche”, sagt André Jünemann. In einem von Zigarettenqualm verdüsterten Seminarraum kocht und schläft er seit vier Wochen. Eingerollte Schlafsäcke liegen unter den Tischen, dicke Boxen versperren die Fenster. Steigt hier jeden Abend eine Party? „Gute Unterhaltung ist wichtig, wenn du wochenlang abgeschottet bist und durchhalten willst”, sagt er. Der angehende Sonderschullehrer mit vier schweren Ringen im Ohr und blondgefärbtem Haar fühlt sich für die psychische Rundum-Betreuung der Streikposten zuständig, er bemuttert die Erschöpften. Viele seien ausgezehrt, übermüdet oder erkältet. Darum zeigt er abends lustige Filme, lädt zu Monopoly oder Mensch-ärgere-Dich-nicht ein oder nimmt Fernsehberichte über den Streik auf Video auf. „Das baut uns dann innerlich wieder auf”, sagt André.

Wie lange können sie so einen Streik durchhalten, bis Weihnachten? „Viel länger”, sagt Ralph. Doch an einigen Fachbereichen bröckelt die Zustimmung. Von 21 000 Gießener Studenten beteiligen sich höchstens 400 aktiv an den Aktionen. Viele stehen unter Druck und wollen wieder Scheine machen. Man erwägt andere Protestformen, vielleicht wie in London, wo Studenten ihre Bibliothek besetzt haben, um sie 24 Stunden am Tag für Fleißige offen zu halten. Ralph ist dagegen, er hält an der eisernen Blockade fest: „Wir verlieren jetzt ein Semester, aber dafür gewinnen wir vielleicht vier”, sagt er. Vier Semester brauche man im Schnitt länger, weil die Seminare überfüllt, die Bibliotheken leer und die Betreuung miserabel seien.

Applaus für den Anzug

„Wir wollen nicht bloß mehr Geld”, sagt Elke Ohliger, die das Philosophikum besetzt hält. Die blasse Studentin sagt das mit einem Gesicht, als sei sie persönlich beleidigt, daß die Medien sie als Streber vorführen, die nur ihren Vorteil suchten. „Wir wissen, daß alle mehr Geld wollen. Uns geht es um den gesamten Sozialabbau. Wir sind auch fürs Sparen und für Reformen, aber wir wollen bei der Verteilung mitbestimmen. ” Das Büro des Streikkomitees sieht aus wie eine heruntergekommene Sparkassenfiliale. Hydrokulturpflanzen sind in den Trögen festgetrocknet, das Telephon klingelt ohne Pause. Ein Barfüssiger steigt durchs Fenster herein. Bringt kalte Luft mit und trägt einen Adventskranz auf dem Kopf. „Ich bin die Arbeitsgruppe Spaßbarometer”, sagt er und faltet seine Fahne zusammen, „ich habe gestern drei Fernsehinterviews gegeben. ” Keiner vertreibt ihn, keiner beachtet ihn. Doch Spinner und Selbstdarsteller sind unter den Studenten selten. „Der macht unzuverlässige Angaben”, warnt Ralph, „aber er stört uns nicht. Die Sender schneiden sowieso wieder heraus, was er sagt.”

Es gibt problematischere Trittbrettfahrer. Ralph wollte Gregor Gysi als Redner zur Bonner Kundgebung einladen. Doch das Streik-Komitee hat ihn überstimmt. Man beschloß, keine Parteipolitiker reden zu lassen. Ralph hat das akzeptiert. Er ist dann auch nicht mitgegangen, als Delegationen zu Bildungsminister Rüttgers und FDP-Generalsekretär Westerwelle aufbrachen. „Das ist doch peinlich. Jetzt laden uns Politiker zum Kaffeetrinken ein, die sich jahrelang nicht für uns interessiert haben.”

Am Nachmittag kommt der hessische Finanzminister nach Gießen. Trotz allgemeiner Übermüdung ist das Audimax überfüllt. Karl Starzacher bedankt sich, daß die Studenten ihn ausreden lassen. Er verkündet, daß die geplanten Prüfungsgebühren für Referendare zurückgezogen werden – eine Forderung der Demonstranten. Außerdem hat er ein paar Millionen für Tutorien und Bücher zusammengekratzt. Er warnt vor einer weiteren Verschuldung des Landesetats. Den Studenten reicht das nicht. Diszipliniert stehen sie Schlange am Saal-Mikrophon. Ein Redner mokiert sich über den Anzug des Ministers. „Wie peinlich”, flüstert eine Kommilitonin. Starzacher schnaubt: „Ich komme von einem Termin, wo ein dunkler Anzug angemessen war. Wollen Sie im Ernst, daß ich mich im Auto umziehe, um Ihren Erwartungen zu entsprechen?” Da bekommt der Finanzminister Applaus. Nun wagt er sogar, eine in seiner Partei tabuisierte Meinung vorzutragen: Der SPD-Mann ist für Studiengebühren. Die Studenten rufen leise „Buh”.

„Gerade diese leise Revolte ist vielleicht unsere Stärke”, sagt Oehme. „Wir haben es nicht nötig, Fensterscheiben einzuschlagen. Wir haben die besseren Argumente, und wir haben hier eine irre Stimmung. ” Der Streik ist keine Loveparade, doch das Logo auf den T-Shirts der Demonstranten zeugt von großer Harmlosigkeit. Es ist das Emblem der Zigarrettenmarke Lucky Strike. „Rezeptionsästhetisch ist das völlig daneben”, sagt Ralph, „man denkt, da kommen ein paar nette junge Leute, die für Zigaretten Werbung machen. Dabei kriegen wir noch nicht mal Geld von der Firma.”

Sind sie also ganz normale, junge Leute, die nur zügig studieren wollen, wie Helmut Kohl meint? „Ich bin nicht sicher, ob er unsere Forderungen schon gelesen hat”, sagt Ralph. „Ich glaube eher, er hat einen wunderbaren Psychologen an seiner Seite, der hat ihm gesagt: Umarme die Studenten und erdrücke sie.” 




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