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Nach der vierten Klasse trennen sich die Lebenswege
Zwischen Recht auf freie Bildungswahl und Staatsrecht auf Auslese: Der Übertritt zum Gymnasium setzt Lehrer, Eltern und Kinder unter Druck
Von Jutta Pilgram
Seit ein paar Tagen ist alles anders in der Klasse 4 A. „Die ganze Angst ist weg”, sagt Sophie, zehn Jahre alt, „jetzt ist es egal, wie gut man ist”. Am Montag vor einer Woche haben die Viertklässler an Bayerns Grundschulen einen Zettel erhalten, der einem Urteil gleichkommt. „Geeignet” oder „nicht geeignet” steht auf dem Zettel. Seither weiß jeder Schüler, wohin er gehört. Nach oben oder nach unten, aufs Gymnasium oder in die Hauptschule. In Sophies Klasse haben es zwölf Kinder geschafft. Sie dürfen aufs Gymnasium, weil sie in Deutsch, Rechnen und Sachkunde einen Schnitt von 2,33 oder besser erreicht haben. Der Rest liegt darunter, der Rest muß zur Hauptschule oder zum gefürchteten Probeunterricht antreten. „Manche Eltern machen so einen Druck, daß die Kinder schummeln müssen”, sagt Lara. „Da wird einem richtig schlecht.”
Die Mütter bezeichnen ihre Wohngegend als „reinen Akademiker-Sprengel”, sie haben aschblonde Strähnchen im Haar und Sorgenfalten im Gesicht. Sie wollen nur das Beste für ihr Kind, und daher sind sie zu Expertinnen der Noten-Überwachung geworden. Sie wissen genau, daß Rechtschreibfehler in Sachkunde-Tests nicht zählen und daß bei Aufsätzen ein guter Ausdruck mit einem Pünktchen am Heftrand gelobt werden muß. Sie wissen auch, daß in der vierten Klasse überdurchschnittlich viele Blinddärme operiert werden und Kinder plötzlich Schuppenflechte oder Krupp-husten bekommen. „Ich war immer froh, vier Kinder zu haben”, sagt eine Mutter, „aber vier Kinder aufs Gymnasium zu bringen, das ist jahrelanger Streß, daran zerbrechen Ehen.”
Die Mütter sitzen im Café einer bayerischen Kleinstadt und wollen ihren Namen nicht nennen. „Das muß topsecret bleiben”, sagt eine, „an der Schule herrscht reinste Willkür”. Die Lehrer seien kleine Diktatoren, unfähig zur Selbstkritik, mit Freude an der Macht. „Unsere Kinder hatten Kommentare im Heft, die waren völlig chaotisch. Aber meinem Sohn hab ich gesagt: Wehr dich nicht, auch wenn die Lehrerin ungerecht ist, du redest dich um Kopf und Kragen. Wir sind ihr ausgeliefert, sie allein entscheidet, ob er aufs Gymnasium kommt.”
Wer verteilt in Deutschland Bildungschancen? Wer bestimmt, ob ein Kind eine höhere Schule besuchen darf oder nicht? Die Eltern oder die Lehrer, der Bürger oder der Staat? Mütter und Väter haben das Recht, ihre Kinder nach eigenen Vorstellungen zu erziehen, so steht es im Grundgesetz. „Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht”, heißt es in Artikel 6. In der Weimarer Verfassung endete das elterliche Erziehungsrecht „vor den Toren der Schule”. Nach dem Grundgesetz aber gilt es nicht nur für den Raum der Familie, sondern reicht bis in die Schule hinein. Ob ein Kind in Sexualkunde unterrichtet wird oder ein Kreuz im Klassenraum hängt, die Eltern wollen mitreden.
Eigentlich dürfen sie auch über die schulische Laufbahn der Kinder frei entscheiden. Doch einige Bundesländer zeigen den Eltern hier ihre Grenzen auf: In Bayern, Baden-Württemberg, Sachsen und Thüringen legen die Kultusminister eine Note fest, beim Übertritt in ein staatliches Gymnasium vorzuweisen ist. Die Länder berufen sich dabei auf Artikel 7 des Grundgesetzes: „Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates”. Sie stellen das Recht der Schule auf Auslese der geeigneten Schüler über das Elternrecht auf freie Wahl des Bildungsgangs ihrer Kinder. In zwölf Bundesländern ist es umgekehrt: Hier gibt die Schule lediglich eine Empfehlung ab, die Entscheidung aber fällen die Eltern. Auch deshalb besuchen in Hamburg 34 Prozent eines Jahrgangs das Gymnasium, in Bayern aber nur 19 Prozent.
Große Pause in der Grundschule an der Münchner Türkenstraße. Das dumpfe Läuten der elektronischen Klingel dringt bis ins Lehrerzimmer. „Es gibt Eltern, die feilschen um jeden Punkt”, sagt die Lehrerin Barbara Fontin. Kürzlich habe eine Mutter die Note ihres Sohnes mit der Begründung beanstandet: Aber Sie müssen doch einsehen, daß er das Richtige gemeint hat! Ihre Kollegin Carola Gampe erzählt von Eltern, die Klausuren der Kinder kopierten und mit anderen Eltern austauschten. Die Kopien kursierten im Bekanntenkreis, würden von befreundeten Lehrern nachkorrigiert und der Klassenlehrerin wieder vorgelegt. „Manche Eltern kennen die Noten der Klassenkameraden besser als die des eigenen Kindes”, sagt die Schulleiterin Christine Urban. Eltern, die das Lehrer-Urteil hartnäckig anfechten, seien zwar der Einzelfall. „Doch das Interesse ist von vorneherein nur aufs Gymnasium gerichtet. Über die Hauptschule will man sich noch nicht einmal informieren.”
In den siebziger Jahren sollte die Gesamtschule die frühe Trennung der Schüler beenden. Das dreigliedrige Bildungssystem mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium reproduziere nur die Klassengesellschaft, hieß es. Die Abschottung der Schularten voneinander mache eine Korrektur negativer Urteile nahezu unmöglich. In der Gesamtschule sollten die Schüler daher so lange wie möglich zusammenbleiben. „Soziales Lernen” wurde ebenso ernst genommen wie das Pauken abfragbaren Wissens. Um begabte Schüler trotzdem ausreichend zu fördern, richteten die Gesamtschulen A-, B- oder C-Kurse mit unterschiedlichem Leistungsniveau ein. Eine Untersuchung kam schon bald zu dem Ergebnis: „Die Zuteilung zu einem C-Kurs wird stärker als der Besuch der Hauptschule als disqualifizierend empfunden und führt zu weitergehendem Verlust an Motivation. ” Auf den glühenden Wunsch nach Chancengleichheit folgte Ernüchterung. Der Gesamtschulverfechter Professor Hans-Günter Rolff schreibt selbstkritisch: „Jeder Lehrer erfährt den Widerspruch zwischen Chancengleichheit und individualistischer Leistungsauslese spätestens dann, wenn er im zehnten Schuljahr entscheiden muß, welchem Schüler er die Fachhochschulreife attestieren darf und welchem nicht.”
Die Fragen, die das Modell Gesamtschule aufwarf, sind bis heute nicht beantwortet. Wenn derzeit in Bayern über die sechsstufige Realschule gestritten wird oder in Brandenburg und Berlin über die Dauer der Grundschulzeit, dann geht es noch immer darum: Sollen Schüler nach Leistung sortiert werden? Und wenn ja: Wann ist der richtige Zeitpunkt? Kann eine der folgenschwersten Entscheidungen für das Leben eines Menschen schon im Alter von zehn oder elf Jahren gefällt werden? Und darf sich der Staat an einer solchen Auslese beteiligen?
Elizabeth Belser hat drei Kinder. Zwei von ihnen haben den Übertritt zum Gymnasium nicht auf Anhieb geschafft. Sie nahmen den Umweg über die Hauptschule und ein Privatgymnasium in Kauf. Doch die Mutter macht der Schule deshalb keinen Vorwurf. „Die Lehrer verschanzen sich aus Angst vor den Eltern hinter einer Mauer”, sagt die gebürtige Amerikanerin. Elizabeth Belser hält das dreigliedrige Schulsystem jedoch für „grundsätzlich diskriminierend. ” Sie engagiert sich im Verein „Aktion Humane Schule”, der für eine sechs- oder besser noch achtjährige Grundschule kämpft. Die sei schließlich auch in den USA und in fast allen Ländern Europas üblich.
Spätzünder und Sensibelchen
In Deutschland haben die meisten Bundesländer in den siebziger Jahren auch außerhalb der Gesamtschulen mit der sogenannten Orientierungsstufe experimentiert. Die Schüler lernten im fünften und sechsten Jahr gemeinsam, das Übertrittsurteil fiel also zwei Jahre später. Heute gibt es in Deutschland nicht ein Schulsystem, sondern sechzehn verschiedene. Jedes Bundesland bietet andere Bildungswege an. In Bayern etwa beginnt die Realschule erst in der siebten Klasse. Wer den Übertritt aufs Gymnasium nur knapp verfehlt, muß zwei Jahre die Hauptschule besuchen und kann dann immer noch zur Realschule wechseln. Doch sogar diese halbherzige Orientierungsstufe will Kultusministerin Monika Hohlmeier (CSU) nun abschaffen.
Die Realschule soll wie das Gymnasium schon im fünften Jahr starten. Sonst sei das Pensum nicht zu bewältigen. Das treibt den Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband auf die Barrikaden, er hält die sechsstufige Realschule für eine „historische Fehlentscheidung”. Grundschüler stünden demnächst noch früher unter Auslesedruck. Morgen wollen die Lehrer mit Unterstützung der Grünen und der SPD ein Volksbegehren gegen die Schulreform auf den Weg bringen.
Viele Lehrer fürchten die Verantwortung, die wegen des Übertrittsurteils auf ihnen lastet. Im vierten Schuljahr nehmen sie es sehr genau mit ihren Notizen. „In der dritten Klasse ist man viel entspannter”, sagt Rektorin Christine Urban. Im Lehrerzimmer gibt man zu, daß Fehlurteile nicht hundertprozentig ausgeschlossen werden können. Es gäbe nun mal Spätzünder und Sensibelchen unter den Viertklässlern. Doch erfahrungsgemäß seien dies nie die Kinder, deren Eltern mit allen Mitteln den Übertritt aufs Gymnasium erzwingen wollten.
In Deutschland will knapp die Hälfte der Eltern, daß ihr Kind Abitur macht. Aber wissen Eltern wirklich besser als Lehrer, welches die richtige Schullaufbahn für ihr Kind ist? „Nichts belastet die Schüler so sehr wie die Erwartungshaltung der Eltern”, sagt Urban. „Man spürt genau, wie es dem Kind zusetzt, wenn es die Wünsche der Eltern nicht erfüllen kann. ” Darüber ärgern sich die Mütter im Café. „Den Druck macht doch die Schule”, sagt eine Mutter, „meine Kinder durften jeden Nachmittag drei bis vier Stunden spielen. Wir Mütter bauen die Kinder ständig nur auf, mit Bachblüten und wer weiß was. ” Da könnten die Politiker sagen, was sie wollen. Die Hauptschule sei einfach nicht toll. „Das ist nun mal ein ganz anderes Milieu.”
SZ, 14.5.1999