Stillstand-Ort Deutschland (IV): Wer blockiert die Hochschulreform?

Die Angst vor der Scheinfabrik

Welche merkwürdige Koalition Dozenten und Studenten an der Universität Oldenburg bilden, wenn es um Leistungskontrolle in Forschung und Lehre geht

Von Jutta Pilgram

Oldenburg, im August – Manche Prüfungen dauern nur Sekunden. Die Abschlußklausur im Psychologie-Kurs von Nicole Bierlein zum Beispiel. Am Morgen ist die Pädagogikstudentin mit dem Nasenring gut vorbereitet zum Termin erschienen. Doch der Dozent hat sie heimgeschickt. Es sei ihm am liebsten, wenn die Hälfte des Kurses wieder gehe, sagte Professor Jörg Schlee, er habe nicht genug Kopien für den Multiple-Choice-Test dabei. Mit 40 Leuten habe er nicht gerechnet, der Raum sei zu klein, da werde nur gemogelt. „Wir haben vorgeschlagen, die Blätter schnell zu kopieren oder den Raum zu wechseln”, sagt Nicoles Kommilitonin Iris Baumann, „aber er wollte einfach nicht. ” Nun sitzen sie in der Cafeteria und haben das Gefühl, die Semesterferien gar nicht richtig verdient zu haben. Fürs Wintersemester hat der Professor einen Nachholtermin in Aussicht gestellt.

„Auf die faulen Professoren zu schimpfen, ist billig”, sagt Klaus Floret. Der Mathematikprofessor sitzt in einer Art Sporthotel am Rande eines Naturschutzgebietes. Das Sporthotel ist die Carl-von-Ossietzky-Universität in Oldenburg, eine der jungen Hochschulen aus den siebziger Jahren. Umgeben von Wald, Wiesen und Weihern liegt der gepflegte Klinkerbau mit großer Fensterfront, hier gehen Mathematiker und Naturwissenschaftler ihren Gedanken nach. Nebenan auf weißem Sand, spielen braungebrannte Studenten Beach-Volleyball, das dumpfe Klopfen von Tennisbällen dringt herüber. Das Hochschulsportzentrum bietet Yoga und Massagekurse, Bauchtanz, Akrobatik und Bodybuilding.

„Es geht mir gut hier”, sagt der Mathematiker Floret, „auch wenn unser Unipräsident behauptet, wir dämmerten hier unseren Pensionen entgegen. ” Floret geht erst in neun Jahren in Ruhestand, und die Pauschalkritik des Oldenburger Hochschulpräsidenten Daxner trifft ihn hart. „Sie sehen ja: Ich liebe meine Arbeit und engagiere mich”, sagt er. Noch am letzten Semestertag macht sein Seminar Überstunden. Natürlich gebe es Kollegen, die das lockerer hielten. Aber der Krach, den der Präsident schlage, stehe dazu in keinem Verhältnis.

Hochschulpräsident Michael Daxner provoziert gern. Er ist ein Mensch von überschwenglicher Herzlichkeit und geschliffen scharfem Intellekt. Besonders diplomatisch ist er nicht, dafür vielleicht für einen Universitätspräsidenten etwas zu temperamentvoll. Es macht ihm nichts aus, die gesamte Professorenschaft an die gewissenhafte Einhaltung ihrer Lehrverpflichtung zu erinnern. Wenn Daxner über seine Hochschule spricht, sagt er schon mal: „Das System ist korrupt, und es verführt zur Korruption. Das fängt mit dem Spagat-Professor an und endet mit einer gewissen Schlampigkeit den Studenten gegenüber. Ich habe nie behauptet, daß alle Professoren so sind, doch die Studenten sind die Schiebemasse des Systems.”

Tanz mit der Wirtschaft

Daß den deutschen Hochschulen, die einmal über die Maßen leistungsfähig waren, der Kollaps droht, glaubt nicht nur er. Heute sind in Deutschland mehr als doppelt soviele Studenten eingeschrieben als Mitte der siebziger Jahre. An Personal- und Sachausstattung hat sich jedoch nichts Nennenswertes geändert. Die Folgen: Das Studium besteht über weite Strecken aus Leerlauf; die Forschung bleibt im internationalen Vergleich zurück; ausländische Studenten meiden Deutschland.

Michael Daxner ist Mitglied der Grünen, und er glaubt, daß eine Reform trotz aller Finanzprobleme möglich ist. Er hat in den vergangenen elf Jahren in Oldenburg so ziemlich alles erprobt und etabliert, was der Bonner CDU-Bildungsminister Jürgen Rüttgers nun als „Hochschulreform für das 21.  Jahrhundert” den Universitäten verordnen möchte. So hat Daxner Finanzautonomie eingeführt, die es seiner Uni erlaubt, unabhängig von den starren Vorgaben des Landesministeriums zu wirtschaften. Daxner hat die Verwaltung von Leuten schulen lassen, die sonst Mercedes-Manager trainieren. Und er hat Kontakt zur Wirtschaft gesucht. Das ging soweit, daß der Soziologe Daxner beim Jahresball der Oldenburger Mittelstandsvereinigung den Tanz eröffnete und die Industrie- und Handelskammer ersuchte, die Hochschule aufzunehmen – als größten Arbeitgeber der Region. Daxner lud die Kommissionen der Hochschulbewerter ins Haus und ließ Lehre und Forschung durchleuchten, er drängte auf internationale Abschlüsse und kooperierte ohne Dünkel mit Fachhochschulen der Umgebung. Am liebsten würde er auch die Habilitation abschaffen und den Beamtenstatus der Professoren gleich mit. „Diese Hochschule ist das Erfolgsmodell der neunziger Jahre”, ruft Daxner und breitet die Arme aus, als wolle sein Reich umarmen.

Doch der Präsident ist enttäuscht. „Man soll mit dem Begriff Tragik nicht übertreiben”, sagt er, „aber nach elf Jahren bin ich doch bestürzt, daß die Reformen nicht wirklich akzeptiert werden. ” Zwar habe man – mit vereinten Kräften – einiges erreicht und die „grausamen Sparauflagen” der Landesregierung erfüllt. Trotzdem sei er für viele Oldenburger Feindbild geworden. Seit Monaten landen anonyme Briefe in Ministerien, bei Wissenschaftsorganisationen und Hochschulen. Darin wird Daxner als „Gewerbetreibender” oder „Allzweck- und Allparteienkandidat” verleumdet. Deshalb will Michael Daxner im nächsten Jahr nicht mehr kandidieren.

Der Uni-Präsident wollte Oldenburg zum Vorreiter der Hochschulreform zu machen, nun droht es auf halben Wege steckenzubleiben. Anderswo erntet Daxner Lob, vom Bundesbildungsminister und vom neuen Chef der Hochschulrektorenkonferenz. „Ich schätze Daxner sehr”, sagt Klaus Landfried, „vielleicht hätte er manches eleganter machen können. ” Aber wieviel Eleganz ist nötig, für eine Hochschulreform?

„Er ist den Leuten auf die Füße getreten”, sagt der Physiker Volker Mellert, „hat auf die wunden Punkte gezeigt. Es gibt an dieser Hochschule Leute, die über Jahre nicht aufgetaucht sind, das könnte sich in einem Unternehmen niemand leisten. ” Der Professor im Holzfällerhemd ist betrübt über den „Mangel an innerer Reformbereitschaft” und das Besitzstandsdenken von Kollegen. Die Finanzautonomie etwa: „Verteilungskämpfe um die Gelder hat es immer geben, aber jetzt wird transparent, welcher Fachbereich wieviel bekommt”, sagt Mellert. „Früher ließ man das Ministerium entscheiden, jetzt müssen wir es selbst tun. ” Die Eigenverantwortung schafft böses Blut, die Finanzautonomie ist zum Sündenbock geworden. „Es gibt es soviel Positives an dieser Hochschule”, sagt Mellert, „aber wir vermarkten es nicht.”

Die Universität Oldenburg ist ein Biotop. Ein langbärtiger Professor betreibt Fahrradforschung, Proben einer Frauen-Rockband stehen im Vorlesungverzeichnis, die Bibliothek gleicht einer Kunstausstellung. Die Mensa bietet Vollwertkost an, Studenten experimentieren im Labor mit Sonnen- und Windenergie. Die ganze Hochschule ist eine buntlackierte Mülltrenn- und Nichtraucherzone, jedes Flugblatt ist in politisch korrektem, feminisierten Deutsch verfaßt. Oldenburg ist berühmt für Umweltwissenschaften, für Landschaftsökologie und interkulturelle Pädagogik, für Geschlechterstudien und Meeresforschung. Mit knapp 13 000 Studenten ist die Hochschule überschaubar, jeder kennt jeden. Ist Oldenburg so etwas wie Utopia?

Das verhindern offenbar nicht zuletzt die Studenten. „Ich verstehe das selbst nicht, eigentlich müßte man sich damit identifizieren”, sagt Zoologiestudent Lars Eckmeyer, „aber es passiert absolut nicht, vielleicht ist das eine Mentalitätsfrage. ” Im Foyer vor der Mensa herrscht tiefste Depression. Ein „Arbeitskreis gegen Bildungsklau” dokumentiert auf Wandtafeln die miese Stimmung. „Motz-Aktion” nennt sich die Beschwerden-Litanei: In Psychologie macht ein Professorenstreit das Klima unerträglich; in Stadtplanung ist das Angebot „unter aller Sau”; in Musik sind die Klaviere nicht gestimmt und der Cembalo-Unterricht ist gar abgeschafft; in Chemie fehlen die Chemikalien; in Pädagogik gibt es keine „Müttertutorien”; eine Professur für Informatik ist seit sechs Jahren unbesetzt, überhaupt sei die Ausbildung bald nur noch auf die Wirtschaft fixiert.

„Das profit- und konkurrenzorientierte Denken hat an unserer Hochschule längst Einzug genommen”, klagen die Motz-Aktivisten und fordern: „Kein Konkurrenzkampf! Keine Mittelvergabe nach Leistungskriterien!” Das klingt, als seien Leistung und kritisches Bewußtsein unvereinbare Gegensätze. Die Studenten lehnen ab, was so wichtig für die Zukunft wäre, denn: Um was, wenn nicht die Kombination eben dieser beiden Ziele, geht es im Studium?

„Die puschen immer mehr”, sagt Nicole mit dem Nasenring. „Früher war es viel entspannter. Da war Studium auch eine Art Bewußtseinserweiterung. Da nahm man sich Zeit, um sich ein Bild von der Welt zu machen. Jetzt haken wir superschnell die Scheine ab, und alles läuft immer mehr auf ein reines Schein-Studium heraus. ” Daxner sieht die Sache anders. „Die Universität ist keine Selbstfindungsanstalt, und sie soll auch keine sein,” sagt er. „Man kann auch ohne Zunahme von Entfremdung und Druck wesentlich mehr arbeiten, als bei uns gearbeitet wird”.

Wie hart wird gearbeitet, wie gestreßt sind Studenten und Professoren? Germanistik an einem Dienstag in der letzten Semesterwoche. Zehn Veranstaltungen stehen auf dem Programm. Neun finden statt. Das Seminar „Foucault: Überwachen und Strafen” ist eingeschlafen. „Das Interesse war abgeschöpft”, sagt Professor Manfred Dierks zuhause am Telephon. „Ich vermute, das Thema war den Studenten zu anspruchsvoll. ” In fünf der neun übrigen Veranstaltungen sitzen weniger als zehn Hörer. Alle Kurse sind seit Semesterbeginn um zwei Drittel geschrumpft. „Es fehlt jede Verbindlichkeit”, sagt Michael Daxner. Er fordert Vertragselemente in der Beziehung zwischen Professor und Student. Mit der Einschreibung sollen die Studenten ein Recht gegenüber der Uni erwerben, umgekehrt könne diese verlangen, als Vertragspartner ernstgenommen zu werden.

„Wer zweimal fehlt, fliegt raus. ” So wird das Problem im Einführungskurs von Professor Dyck gelöst. Stumm hockt der verbliebene Rest Studenten über den Büchern. Vor dem Germanisten Dyck haben viele Angst. „Er beschwert sich die Hälfte der Zeit über unseren mangelhaften Bildungsstand”, sagt ein Student. „Das hat zwar einen hohen Unterhaltungswert, aber auf Dauer zieht es einen runter, wenn einem regelmäßig vorgerechnet wird, daß nach dem sechsten Semester ohnehin 60 Prozent abbrechen und man besser gleich nachhause gehen und Ostfriesentee trinken solle.”

Katja Trambow kann Joachim Dyck verstehen. Bei ihm könne man wenigstens etwas lernen, sagt die ernste Germanistikstudentin. „Ich finde es auch grauenhaft, wenn von 25 Leuten, die dieses Fach wählen, 20 noch nie was von Kafka gelesen haben. Einen echten Liebhaber wie Dyck schmerzt das eben, so einer wird dann zynisch. ” Der Professor in Samtweste gibt sich galant, doch sein Befund ist vernichtend: „Die Studenten wissen nicht, was sie wollen. Die Universitäten sind zu Sozialstationen für eine No-Future-Generation geworden. Da helfen auch keine Reformen. An dieser Hochschule hat sich seit 1982 nichts verändert. ” Der Germanist ist einer der erbittertsten Gegner von Präsident Daxner. „Das ist doch alles hohles Gerede! Daxner hat keinerlei Erfolge vorzuweisen!”

Seltsame Koalitionen

Dyck zieht einen Stoß anonymer Briefe aus dem Regal. „Das funktioniert hier wie ein Hofstaat”, sagt er. „Wir leben an der Uni Oldenburg in einer refeudalisierten Gesellschaft unter der Präsidentschaft Daxner. Die Nähe zum Hof garantiert das meiste Geld. ” Vor allem die systematische Bewertung der Lehre und die Meldepflicht bei Abwesenheit erbost ihn. „Die Lehrbewertungen haben nur die Mängel bestätigt, die bereits bekannt waren, da werden dann schöne Berichte geschrieben. Die Dekane sollen als Überwachungsbüttel herhalten, und die Studenten werden zur Denunziation aufgefordert.”

Der Professor, der nichts von Reformen hält, geht eine merkwürdige Koalition mit Studentenfunktionären ein, wie sie überall sichtbar ist. Auch von Studentenvertretern kann der Reformer Daxner nichts erwarten. „Der Präsident steckt in realpolitischen Zwängen”, sagt Thomas App, Sprecher des Allgemeinen Studentenausschusses (AStA). „Er redet in Schlagworten von studentischer Beteiligung, und gleichzeitig will er der Wirtschaft das Sagen geben. ” App studiert Informatik und gehört der hochschulpolitischen Gruppe „und draußen lagen die Igel” an. Vor zwei Jahren, als der AStA sich in monatelangen Flügelkämpfen zerfleischte, gründeten sich die Igel – „als Nonsens-Protestliste gegen diesen ganzen Kindergarten”, sagt App. „Wir dachten eigentlich nur: Die spinnen ja alle. Dann wurden wir gewählt und haben die Verantwortung übernommen.”

Die Igel warnen vor der Entsolidarisierung der Uni, wenn demnächst nur Wirtschaftstauglichkeit, Wettbewerb und Leistung zählen. Daxner ärgert das. „Die Studenten denken, wenn wir Drittmittel annehmen, kommt die Industrie und sagt: Dafür wollen wir jetzt ein verwertbares Ergebnis. Dabei kommen 95 Prozent der Drittmittel aus dem Steuersack, von Leuten, die nicht studieren und die arbeiten. Markt bedeutet auch Verlierer, aber es muß nicht Vernichtung und Ausgrenzung bedeuten.”

In einer Landschaft aus Sperrmüllsofas, klagt der 29jährige AStA-Chef über endlose Diskussionen im Studentenparlament, inhaltsleere Abwahlanträge des RCDS und die Blockade durch die Fundamentalopposition linksdogmatischer Gruppen. „Die beschimpfen uns als Mitte-Rechts-AStA und werfen uns vor, wir seien zu lustig. Das verbraucht die Hälfte unserer Energie”, sagt App leidend. Als schlage sich der Studentensprecher im Kleinen mit denselben Problemen herum wie der Universitätspräsident im Großen.

Roman Herzog habe recht mit seiner Beschreibung der Veto-Gesellschaft, sagt Daxner. Wenn in einem anderen Land jemand eine gute Idee habe, die von allen getragen werde, würde sie auch verwirklicht. In Deutschland aber sei bei einem konsensfähigen Projekt der Instanzenzug wie bei Vorhaben, über die alle hoffnungslos zerstritten seien. „Dies ist ein Land”, sagt der gebürtige Wiener Daxner, „in dem nichts geht. Eine Reform geht nicht. Aber eine Nicht-Reform geht auch nicht.”


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